Tempel, Schrein und Pagode in Japan

Tempel, Schrein und Pagode in Japan
Tempel, Schrein und Pagode in Japan
 
In der japanischen Sakralarchitektur unterscheidet man zwei Arten von Kultbauten: die shintoistischen Schreine der einheimischen Natur- und Ahnenverehrung und die buddhistischen Tempelhallen und Pagoden mit ihren Vorbildern in China und Korea. Von den frühesten buddhistischen Anlagen ist heute noch der Hōryūji-Tempel südwestlich von Nara und von den shintoistischen der Ise-Schrein östlich von Nara erhalten. Beide stammen aus dem 7. Jahrhundert, als sich gleichzeitig mit der Buddhisierung Japans auch die politisch bedeutsame Abgrenzung einheimischer von importierter Kultur durchsetzte. Für die Shintō-Heiligtümer typisch ist die Einbettung in Wälder und Haine und das den Weg zum Schrein markierende offene Steinmal des Torii. Der klassische buddhistische Klostertempel hingegen ist auf ebenem Gelände angelegt, geometrisch angeordnet und von Mauern umgeben. Sowohl die buddhistischen als auch die shintoistischen Kultbauten sind aus Holz erbaut, das durch seine Flexibilität Erdbeben und Stürmen besser widersteht als Stein.
 
Das weitläufige Ise-Heiligtum der Sonnengöttin Amaterasu am Isuzu-Fluss besteht aus einem Inneren und einem Äusseren Schrein (»naikū« und »gekū«). Der Innere Schrein umfasst heute insgesamt siebzig Bauten. Sein kleines Heiligtum ist wie die Pfahlbauten der Kofun-Zeit auf Ständern erbaut, die ohne Sockel in den Boden eingelassen sind. Es wird von zwei Schatzhäusern identischer Bauart flankiert und von vier Holzzäunen umschlossen. Das mit Riedgras gedeckte Satteldach des Schreins trägt an der Giebelseite zwei gekreuzte Giebelsparren (»chigi«), auf dem First zehn walzenförmige Querhölzer (»katsuogi«). Der Firstbalken wird an den Giebelseiten außen durch runde Pfosten gestützt, die die elementare Funktionalität des Baus betonen. Obgleich der Pfahlbau zweifellos auf einen älteren Haustyp zurückgeht, nimmt man doch an, dass der Schrein mit seinem symbolhaft stilisierten Bauschmuck ursprünglich als »Götterhaus« konzipiert wurde. Während jedoch altertümliche Pfahlbauten über eine Treppe an der Giebelseite betreten wurden, ist die Öffnung an der Längsseite bereits an die Bauweise der buddhistische Halle angelehnt. Seit 685 wird der Ise-Schrein alle zwanzig Jahre auf einem seitlich dafür bestimmten Areal neu erbaut, was einem auch für alte Paläste japanischer Kaiser geltenden Reinheitsgebot entsprach und die genaue Reproduktion des ersten Zustands bis heute garantiert hat. Der Herzpfeiler (»mibashira«) bleibt auch nach der Verlegung als rudimentärer Stumpf stehen. Während der Kulthandlungen enthält er den »Göttlichen Leib« (»shintai«). In anderen Shintō-Heiligtümern, wie dem an der Westküste der Hauptinsel Honshū gelegene Izumo-Schrein, ist der »Herzpfeiler« noch zur Gänze erhalten und markiert die heilige Mitte des Götterhauses. Die Opferhandlungen finden unter freiem Himmel vor dem Inneren Schrein statt. Die dabei stattfindenden symbolischen Kleideropfer gelten dem durch Vorhänge verhüllten Thronbett und den drei kaiserlichen Insignien Spiegel, Schwert und Juwel. Im Äußeren Schrein werden zweimal täglich Speiseopfer dargebracht.
 
In jüngeren Shintō-Schreinen, wie dem Kasuga-, Sumiyoshi- und den Kami- und Shimogamo-Schreinen, werden Naturgötter, Schutzgottheiten oder Ahnen verehrt. Ihnen wird oft vor einem temporären Göttersitz (»shinza«) geopfert, und die Schreine wurden bei ihrer Verlegung nicht zerstört. Typische Merkmale sind die scharfen Schnittkanten der mit dicken Schichten von Zedernrindenschindeln gedeckten, sanft ausgeschwungenen Dächer. Bei mehreren nebeneinander stehenden Schreinen kann ein Dachverbund über fünf Giebel hinweg führen. Im Sumiyoshi-Schrein sind Innerer und Äußerer Schrein (»naijin« und »gejin«), und damit auch die ihnen geltenden Rituale, bereits in einem einzigen Gebäude untergebracht, was zur Vergrößerung der Schreinbauten führen sollte. Schließlich wird dem Hauptschrein (»honden«) eine Bethalle (»haiden«) für die Gläubigen vorgeblendet, und beide Bauten werden durch einen Korridor in der Längsachse verbunden. Bedeutende Beispiele für diesen Schreintyp sind der Kitano-Schrein in Kyōto und das Mausoleum des ersten Edo-Shōguns, Tokugawa Ieyasu (* 1543, ✝ 1616) in Nikkō. Seit dem 12. Jahrhundert wird die der Haupthalle vorgelagerte Bühne für die Kagura-Tänze, wie etwa bei dem (südlich der Hauptinsel Honshū) ins Meer gebauten Itsukushima-Schrein, von Galerien umgeben.
 
Der buddhistische Klostertempel spiegelt die monumentale Anlage des chinesischen Palastes wider. Die Gebäude liegen hintereinander auf der Nord-Süd-Achse in einem von Galerien umgebenen, durch das Südtor zu betretenden Hof. In dem 588 erbauten Shitennōji-Tempel in Ōsaka sind der Torbau, die Pagode (»tō«), die Goldene Halle (»kondō«) und die Lehrhalle (»kōdō«) nach diesem aus Korea übernommenen Schema angeordnet. Abweichungen sind jedoch später die Regel, insbesondere in Bezug auf die Position der Pagode, der chinesischen Form von Buddhas Grabmal (Stupa). Die Pagode wurde als Fremdkörper empfunden, da sie der Goldenen Halle mit der Hauptikone den kultischen Vorrang streitig machte. Die Japaner übernahmen von China die Galeriepagode mit einer ungeraden Anzahl von Stockwerken über quadratischem Grundriss. Der mächtige Herzpfeiler (»shinnohashira«) ragt vom Reliquiar unter seiner Basis bis zur Bronzespitze mit ihren neun Ringen auf und ist mit dem Gliederbau selbst nur locker verbunden. Im Hōryūji (erbaut 607, verbrannt 670, wieder aufgebaut 693) steht die fünfgeschossige Pagode ausnahmsweise links neben der Kondō. Zur Wahrung der axialen Symmetrie wird in späteren Tempeln die Pagode nach chinesischem Vorbild verdoppelt wie beim Yakushiji 718 und das Pagodenpaar schließlich ganz aus dem inneren Hof herausgenommen, wie beim Tōdaiji in Nara 752. Schließlich stehen die Pagoden in der Regel frei außerhalb der Tempelanlage oder fehlen, wie im Zen-Tempel, ganz.
 
Die Goldene Halle mit den wichtigsten Ikonen hat ihre Entsprechung in der Audienzhalle des Palastes, wo der Kaiser seine Untertanen empfängt. Sie weist im Hōryūji zwei Stockwerke auf, jedoch wird das obere außen durch einen Balkon nur vorgetäuscht und ist im Innern nicht begehbar. Die Holzpfeiler ihrer fünf Längs- und vier Querjoche zeigen eine leichte Schwellung des Säulenschaftes, in der man einen hellenistischen Einfluss erkennen wollte. Das von einem einfachen Kraggebälk getragene, weit überhängende Fußwalmdach musste später abgestützt werden, und auch die Überdachung der Terrasse ist eine spätere Ergänzung, sodass die Halle heute massiver wirkt, als sie ist. Die verputzten Wände sind im Innern mit vier Buddha-Paradiesen bemalt, vor denen die rituelle Umwandlung um den Altar stattfand. Ebenfalls im Hōryūji erhalten ist der achteckige Zentralbau der Traumhalle (»yumedono«), die 739 zum Andenken an den Prinz Shōtoku-taishi gestiftet worden war.
 
Der größte Tempelbau der Nara-Zeit war der 752 eingeweihte Große Osttempel -Tōdaiji - mit der 18 m hohen, bronzenen Buddha-Figur in der Haupthalle. Allein das im »indischen Stil« um 1200 erbaute Südtor gibt heute eine Vorstellung von den riesigen Proportionen des mehrmals zerstörten Tempels. Im alten Zustand erhalten ist das Blockhaus des 756 geweihten Speichers (»shōsōin«), der noch heute die damals dort verwahrten Schätze aus dem Kaiserlichen Haushalt birgt.
 
Die seit dem 9. Jahrhundert in den Bergen erbauten Tempel des esoterischen Buddhismus stehen wie die Shintō-Schreine über das bewaldete Gebiet verteilt. Ihre Shintō-Götter gelten als Erscheinungsformen buddhistischer Gottheiten. Im 11. Jahrhundert entstand innerhalb der Erlöserreligion des Amidismus eine neue Tempelanlage, die auf einen Gebäudetyp chinesischer Palastarchitektur zurückgreift. Das früheste Beispiel dafür bietet die an einem Teich errichtete Phönix-Halle (»hōōdō«) des 1053 geweihten Tempels Byōdoin bei Uji. Die rot und weiß gestrichene Tempelhalle stellt das »Westliche Paradies« des Amitabha - in Japan wird er Amida genannt -, des populärsten aller Buddhas, dar, in dessen Lotosteich die Seelen wieder geboren werden. Die auf Pfählen stehende Haupthalle wird von Galerien mit Ecktürmen flankiert und zeigt bei geöffneten Türen eine monumentale, goldene Amida-Figur. Das Vorbild der Phönix-Halle ist der chinesische Gartenpalast, der seinerseits die Vorstellung vom Amida-Paradies prägte.
 
Seit dem 13. Jahrhundert hat vor allem der Zen-Buddhismus neue chinesische Bauformen nach Japan gebracht. Die Architektur des Byōdōin repräsentiert jedoch bis heute das Ideal des japanischen Stils (»wayō«), der sich durch zierliche Proportionen und spielerische Eleganz vom chinesischen Stil (»karayō«) unterscheidet.
 
Prof. Dr. Doris Ledderose-Croissant
 
 
Elisseeff, Danielle und Elisseeff, Vadime: Japan. Kunst und Kultur. Ins Deutsche übertragen von Hedwig und Walter Burkart. Freiburg im Breisgau u. a. 21987.

Universal-Lexikon. 2012.

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